Mehr als Wählen

Der Frankfurter Demokratiekonvent zeigt, wie partizipative Demokratie funktionieren könnte

In einer repräsentativen Demokratie beschränkt sich die Teilhabe der Bürger*innen an der Politik überwiegend auf den Wahlakt. Für das Funktionieren einer Demokratie wäre nach diesem Verständnis eine darüber hinausgehende Beteiligung auch nicht erforderlich. Befürworter*innen einer partizipativen Demokratie vertreten allerdings die Ansicht, dass die Menschen durch Selbstorganisation auch eigenständig tätig werden sollen, um auf den politischen Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen. Bürger*innen sollen die Demokratie demnach nicht nur als Staatsform, sondern auch als Lebensform begreifen und sich aktiv und selbstbestimmt in Gestaltungsprozesse einbringen können. Wie das funktionieren kann, zeigt ein aktuelles Experiment aus Frankfurt am Main.

Im Februar 2019 traten 50 Frankfurter*innen zum ersten Demokratiekonvent der Stadt zusammen. Bei diesem handelt es sich nicht um ein klassisches Instrument der direkten Demokratie, wie wir sie in Österreich beispielsweise durch die Volksbefragung zur Wehrpflicht im Jahr 2013 oder von Volksabstimmungen in der Schweiz kennen. Der Frankfurter Demokratiekonvent ist ein Forum, bei dem ausgeloste Teilnehmende nach dreitägiger Auseinandersetzung mit einem Thema politische Entscheidungsträger*innen beraten.

Die Teilnehmenden beschäftigten sich mit Fragen zur partizipativen Demokratie selbst: Wie wollen wir uns beteiligen? Wie kann Bürgerbeteiligung funktionieren? Welche bestehenden Prozesse sollen gestärkt werden? Die Ergebnisse entfalten jedoch keine rechtliche Verbindlichkeit. „Wichtiger als die konkreten Antworten ist die Förderung eines Demokratieverständnisses, das es ermöglicht, dass aus der Zivilgesellschaft Impulse kommen, die von der Politik aufgenommen werden. Deshalb fordern die Organisator*innen nicht eine Umsetzung, sondern die konkrete Prüfung der Ergebnisse in den jeweiligen Gremien der Stadtregierung“, erklärt Mitinitiator Dominik Herold. Wer die zu diskutierende Frage wählt, gibt das Thema vor und somit zu einem gewissen Grad auch die Antwort. Deshalb werden die Teilnehmenden bereits ab dem zweiten Demokratiekonvent an der Themenfindung teilhaben, um somit Vorgaben durch z. B. Veranstalter*innen oder Entscheidungsträger*innen zu minimieren.

Wer nahm daran teil? Die 50 Teilnehmenden setzten sich zu zwei Dritteln aus zufällig ausgelosten Bürger*innen der Stadt und zu einem Drittel aus Mitgliedern unterrepräsentierter Gruppen (z. B.: Menschen mit geringem Einkommen, Migrationsbiographie, Behinderungen) zusammen. Das Losverfahren wurde über das Melderegister nach den Kriterien Geschlecht, Alter und Stadtteil abgewickelt.

Für die Einbindung von Personen aus unterrepräsentierten Gruppen kooperierte das Organisationsteam mit verschiedenen Vereinen und Institutionen. Darunter die Caritas, der Verein „Über den Tellerrand”, Vereine zur Unterstützung von Geflüchteten, Jugendzentren und Berufsschulen. Ein Schwerpunkt des Projekts lag darin, das demokratische Bewusstsein von Menschen zu stärken, die sich in ihrem Alltag aus verschiedenen Gründen weniger einbringen als andere. Herrschende Machtverhältnisse, die diese Personen sonst oft aus politischen Prozessen ausschließen, sollen so durchbrochen werden.

Nach drei Tagen intensiven Austauschs übergaben die Teilnehmer*innen dem Frankfurter Bürgermeister einen Katalog mit Vorschlägen für eine bessere Bürger*innenbeteiligung. Zu den Vorschlägen zählen ein offizieller Auftrag zur Erstellung von Leitlinien für eine bessere Bürger*innenbeteiligung, die jährliche Abhaltung des Demokratiekonvents zur Ausarbeitung weiterer Vorschläge an die Stadtregierung und der Umbau eines alten Linienbusses zum „Bus der Demokratie“ als mobilen Ort zur Erfahrung von demokratischer Wirksamkeit und Beteiligung.

Auch wenn Modelle der Bürger*innenbeteiligung unzählige Vorteile haben können, sind sie nicht ganz ohne Schwächen. Zum Beispiel wenn solche Formate zu einer reinen Illusion von Beteiligung verkommen. Indem die Politik irrelevante Bereiche den Bürger*innen überlässt, während eine politische Elite weiterhin grundlegende Fragen der Gesellschaftspolitik selbst in die Hand nimmt. 

Als ein positives Beispiel kann hier allerdings die irische Citizens Assembly gelten. Im Jahr 2016 gelang es einer Gruppe von zufällig ausgelosten Teilnehmer*innen, die in Irland seit langem ins Stocken geratene Frage des legalen Schwangerschaftsabbruchs zu diskutieren. Ihre Empfehlung an das irische Parlament führte dazu, dass ein Referendum abgehalten wurde und das strikte und ausnahmslose Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in der Verfassung schließlich aufgehoben wurde. Das zeigt, wie solche Initiativen vermeintlich unlösbare Fragen der Politik behandeln können, an denen ein Parlament aufgrund seiner Struktur und parteipolitischer Abhängigkeiten oftmals scheitert.

Wie schützen sich die Teilnehmer*innen vor politischer Einflussnahme? Desinformations-Kampagnen oder sozialer Druck auf Teilnehmende könnten den Prozess verfälschen. Dieser Gefahr kann beispielsweise entgegengewirkt werden, indem  bis zum Abschluss des Konvents keine Interviews gegeben werden und gesichert wird, dass  wissenschaftlich fundierte Vorträge und Workshops die Grundlage der Diskussionen  bilden. Auch hier gilt es aber natürlich bereits bei der Auswahl der wissenschaftlichen Inhalte und Vermittler*innen demokratische Prinzipien einfließen zu lassen. 

Ferner ist es nicht auszuschließen, dass die Teilnehmenden einer Überforderung mit den komplexen Fragen der liberalen Demokratie ausgesetzt sind. In dieser Überforderung liegt jedoch eine einmalige Chance neue Erkenntnisse zu gewinnen. Eine professionell moderierte Diskussion minimiert diese Gefahr und kann verdeutlichen, entlang welcher Interessen Konflikte verlaufen. Debatten unterstützen den Austausch von Meinungen und Erfahrungen und stärken durch ein Zusammentreffen verschiedener Beteiligter das Verständnis gegensätzlicher Ansichten.

In Wien wählen die Bürger*innen voraussichtlich im Herbst einen neuen Gemeinderat und Landtag. Ein Wiener Demokratiekonvent nach dem Frankfurter Modell könnte der nächsten Stadtregierung wertvolle Vorschläge liefern und Wiener*innen die Erfahrung dieser Form der demokratischen Partizipation ermöglichen. Denn Demokratie bedeutet mehr als Wählen.

Ricardo Parger

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