Die größte „Rechtsbereinigung“ in der österreichischen Geschichte: Normenabbau ohne demokratischen Diskurs

Schon die Benennung des Ressorts von Minister Josef Moser als Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz verdeutlicht den Ruf nach „Deregulierung“. Eine solche Namensgebung ist im internationalen Vergleich höchst selten und verdeutlicht den Stellenwert des ambitionierten Projekts der „Rechtsbereinigung“. Der Ministerialentwurf  wurde am 30. April 2018 im Parlament eingebracht. Darüber, wie dieses Vorhaben zu bewerten sei, herrscht auch unter Jurist*innen große Uneinigkeit.

Gab es das schon mal?
Das Wort „Rechtsbereinigung“ tauchte in Österreich bereits 1999 auf, als der Rechtsbestand auf ähnliche Weise begutachtet wurde. Hier handelte es sich um die Normen, die vor 1946 erlassen wurden: Vom Beginn der Zweiten Republik bis hinein in das frühe 19. Jahrhundert wurden damals Rechtsvorschriften gesucht, die in Geltung zu behalten waren. Damit wurden zugleich jene Gesetze einer genauen Prüfung unterzogen, die während des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus in Kraft gesetzt wurden. Dies machte aus historischen und rechtspolitischen Gründen jedenfalls Sinn.

Was ist geplant?
Alle Gesetze, die vor dem 1. Jänner 2000 verabschiedet wurden und weiterhin in Geltung bleiben sollen, werden im Anhang des Entwurfs zum Zweiten Bundesrechtsbereinigungsgesetz aufgelistet. Diese Liste umfasst bisher 250 Seiten. Jene Verordnungen und Normen, die nicht in diesen Katalog aufgenommen werden, sollen ihre Geltung verlieren. Gegenwärtig stehen nach offizieller Zählweise rund 5.000 Gesetze und Verordnungen auf dem Prüfstand. Etwa die Hälfte davon soll nach eigenen Angaben des Ministeriums abgebaut werden.

Darf die Regierung das überhaupt?
Dass der Rechtsbestand und die Verfassung regelmäßig auf ihre Effektivität geprüft werden soll, wurde schon im 18. Jahrhundert in den amerikanischen Federalist Papers diskutiert. Das österreichische Verfassungsrecht sieht verschiedene verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte vor, die von einfachen Gesetzen nicht verletzt werden dürfen. Damit eine Einzelperson solche Rechte jedoch geltend machen kann, muss sie in seiner subjektiven Rechtssphäre betroffen sein. Zu denken wäre an Eingriffe und Verstöße gegen das aus dem Gleichheitssatz ausstrahlende Sachlichkeitsgebot oder das im Legalitätsprinzip begründete Bestimmtheitsgebot. Jedoch scheint die Grundrechtssystematik der Verfassung nur schlecht geeignet, um ohne einen konkreten Anlassfall verfassungsrechtliche Kritik vorzubringen.

Vielmehr ist das Vorhaben problematisch aufgrund der Implikationen für die Gewaltenteilung, die demokratische Mitbestimmung oder die Wahrung der Oppositionsrechte. Denn nicht die Regierung, sondern das Parlament verabschiedet die Gesetze verfassungsrechtlich kritisch. Ob es genug Informationen erhält und Zeit zur Prüfung bekommt, wird sich zeigen. Auf die Grundprinzipien der Verfassung rekurrierende Einwände könnten etwa von einer Landesregierung, einem Drittel der Mitglieder des Nationalrats oder des Bundesrats gegen das Bundesrechtsbereinigungsgesetz beim VfGH vorgebracht werden.

Warum ist das Vorhaben problematisch?
Zu kritisieren ist am gegenwärtigen Rechtsbereinigungsgesetz, dass der Entscheidungsprozess, welche Gesetze als bedeutend erachtet werden, weitgehend unter Ausschluss parlamentarischer Entscheidungsträger*innen und der politischen Öffentlichkeit verlief. Die Nominierung der Gesetze und Verordnungen erfolgte durch die einzelnen Ministerien und wurde durch den Verfassungsdienst begutachtet, ehe sie Ende April publik gemacht wurde. Der parlamentarischen Kontrolle wurden nähere Informationen lange Zeit vorenthalten, was auch aus einer Anfragebeantwortung Josef Mosers hervorgeht.

Problematisch ist dies aus mehrerlei Gründen: So können Normen sang- und klanglos aufgehoben werden, die seitens der Regierung missbilligt werden. Eine politische Debatte um die Fortgeltung oder Aufhebung von Normen wird damit verhindert und der gesamte Prozess als rein technisches Verfahren verharmlost. Außerdem ist auch das nun vorgelegte Rechtsbereinigungsgesetz ein eigenes Gesetz, das interpretiert werden muss, worunter gerade die Rechtssicherheit leiden könnte. Denn insbesondere der in § 1 Abs 2 angeführte Katalog der Ausnahmen vom Rechtsbereinigungsgesetz enthält lediglich eine demonstrative Aufzählung jener Rechtsnormen, auf die das Gesetz keine Anwendung finden soll. Das bedeutet, dass durch juristische Auslegung möglicherweise noch weitere Ausnahmen konstruiert werden könnten, die im Gesetz nicht explizit genannt sind. Ein Umstand, der gerade nicht für eine große Rechtssicherheit spricht.

Schließlich stellt die „Rechtsbereinigung“ auch einen immensen administrativen Aufwand dar. Über Monate hinweg haben Mitarbeiter*innen aller Ministerien die Rechtsordnung nach „totem Recht“ durchsucht. Tatsächliche Probleme, welche das Leben der Menschen beeinträchtigen, blieben derweil auf der Strecke, zumal mit dem kommenden EU-Ratsvorsitz, den Herausforderungen der Integration, dem Klimawandel und der Digitalisierung genug Themen auf eine sinnvolle Bearbeitung durch die Regierung warten würden. Gerhard Hesse, der Leiter des Verfassungsdienstes, rechtfertigte dieses scheinbar nutzlose bürokratische Unterfangen unlängst bei einer Podiumsdiskussion im Wiener Juridicum mit den Worten: „Wir beginnen damit einen Prozess der Auseinandersetzung mit der Rechtsordnung“, und er fügte hinzu, dass weitere Projekte bereits in der Warteschlange stünden. Aus diesen Worten wird klar, dass der Diskurs um die Rechtsordnung und ihre Reform die Öffentlichkeit auf weitere Vorhaben vorbereiten soll, wie die Absenkung nationaler Standards in zahlreichen Bereichen, die durch EU-Recht determiniert sind (legitimiert durch das Narrativ „Gold Plating“), oder die Föderalismusreform. „Rechtssicherheit“, „Bereinigung“ und „Effizienz“ werden als Legitimationsnarrative inszeniert, welche die Regierung zum Handeln ermächtigen sollen.

Doch eine solche Handlungsermächtigung kann unter demokratisch-rechtsstaatlichen Verhältnissen nicht ohne einen kritischen Diskurs stattfinden. Die politischen Implikationen sind zu weitreichend, die möglichen Folgen so fundamental, dass die gesamte Gesellschaft aufgefordert sein sollte, hier aufmerksam mitzudiskutieren. Das Parlament alleine wäre aus vielfachen Gründen ein wichtiger, aber keineswegs der einzige Ort, an dem eine solche Debatte stattfinden sollte.

Sebastian M. Spitra

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